BG8-161 Jan Stressenreuter: Love to Love You, Baby

Meine Gedanken nach den ersten Seiten über den Hauptcharakter Tobias waren nicht die freundlichsten. Wie hat Tobias seine Probleme bloß so lang mit Alkohol betäuben können? Ich würde derart viele Probleme unerledigt nicht aushalten können. Wie kann er nach einem durchzechten Wochenende noch halb im Rausch, schlaftrunken und verkatert in die Arbeit fahren. (Er arbeitet bei einer Krankenkasse und ist für die Genehmigung von Kostenersatz zuständig). Er hat kein Verantwortungsgefühl und nimmt keine Rücksicht auf irgendjemanden. Das erste, was ihm einfällt, als sein Freund die nicht allzu lange Beziehung beendet, ist Alkohol, Flucht vor dem Schmerz und vor der eigenen Schuld. Er trinkt dann eine Flasche nach der anderen mit »Niemand-hat-mich-lieb- Musik« als Untermalung. Als dann das flüssige Vergessen ausgetrunken ist, wird die Ersatz-Mutter angerufen um für noch mehr Alkohol zu sorgen und um eine Schulter zum Ausweinen mitzubringen. Tobias ist 39 und hat nie gelernt, mit seinen Problemen umzugehen. Es wird schnell klar, dass der Schmerz der ersten großen Liebe hier eine wichtige Rolle spielt. Dennoch reicht normalerweise eine betrunkene Nacht, da muss nicht gleich das ganze Wochenende ertränkt werden. Die Neugier, was nach diesem Roman-Intro Jan Stressenreuter von seiner Hauptfigur erzählen wird, wovon diese solch einen Schaden davongetragen hat, war dann doch ein großer Antrieb, das Buch wieder aufzunehmen. Ich wurde nicht enttäuscht: Auch wenn es stellenweise anstrengend war, ließ mich die Spannung das Buch immer wieder zur Hand nehmen und ich habe es letztendlich in zwei Zügen ausgelesen. Es lässt sich schon früh erahnen, wovor Tobias davonläuft. Wie bei einem Krimi setzt sich ein Puzzlestein nach dem anderen zusammen, um in einem großen Finale zu gipfeln. Ich werde jetzt noch ganz kribbelig und aufgeregt, beim Lesen habe ich richtig mitgelebt. Ich konnte und wollte auch so richtig in die Geschichte versinken. Tobias muss zurück in die provinzielle Heimat, um seiner Mutter bei der Beerdigung des Vaters zu helfen. Das macht er nur ungern, denn nachdem er mit 17 in die Großstadt geflohen war, hat er es danach nie länger als einen Tag dort ausgehalten und seine kleine Schwester Franziska kennt er hauptsächlich von stundenlangen Telefonaten. Der Grund wohnt gleich gegenüber von seinem Elternhaus: Sebastian, erst Kumpel, dann Geliebter, jetzt manifester Horror. Da Sebastian ein enger Freund der Familie ist und Ersatzbruder für Franziska, lässt sich ein Zusammentreffen nicht vermeiden. Und schon kämpfen sich die ersten Erinnerungen an die Oberfläche. Angefangen wie die beiden sich in der Kindheit kennengelernt haben, wie im pubertären Übermut die Dorfkirche entweiht wird, so durchlebt Tobias Stück für Stück die Vergangenheit. Jetzt, da es kein Entkommen mehr gibt, drängt der Schmerz an die Oberfläche. Jan Stressenreuter hat Courage gezeigt und sich in seinem ersten Roman mit einer Vielzahl, wie ich finde, schwerer Thema befasst, ohne dass einen die Traurigkeit überwältigt. Am Schluss des Buches dachte ich mir schließlich: „Nur eine Seite noch! Das geht sich doch nie aus, ich bin doch noch mitten in der Geschichte.“ Es ging sich aus, plausibel, vollendet genug, um das Buch mit einem guten Gefühl zu schließen, und offen genug, um sich ein persönlich Ende auszumalen können. Ich habe gerätselt, mich geärgert, geschrien und gelacht, es war ein schönes Erlebnis, das mir Lust aufs nächste Buch gemacht hat. (Michael empfiehlt, Winter 2012/13)

Jan Stressenreuter: Love to Love You, Baby
D 2012 (Neuaufl.), 335 S., Broschur

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